Die Islamkritik steht mit dem Rücken zur Wand. Seit dem Anschlag in Mannheim im Mai 2024 auf den Journalisten Michael Stürzenberger fragen sich auch andere Kritiker, die in der Öffentlichkeit auftreten: Wann bin ich dran? (Ahmad Mansour in der NZZ). Dabei ist die internationale Kette der Betroffenen seit mehr als 30 Jahren so lang geworden, daß einige Glieder bereits in Vergessenheit geraten sind.
Islamkritik ist heute mehr denn je Kritik unter Polizeischutz. Man sollte annehmen, daß die kritische oder auch abschätzige Beurteilung der Religion als tradiertes Kernelement der Meinungsfreiheit eine besondere Obhut genießt. Das Gegenteil ist der Fall. Ein moralischer Zeigefinger delegitimiert Kritik und zieht sie in den Narrensaum von Haß und Hetze. Die frühere Drohfigur des Haßpredigers verschwindet hinter der des Islamhassers.
Wie eine „konservative“ Streitschrift den Wind in die falsche Richtung drehte
Die sich in den Medien nach dem verheerenden Terroranschlag vom 11. September 2001 artikulierende Islamkritik wurde zunehmend als Störenfried der herrschenden Migrationspolitik angesehen. Man fürchtete die Aushöhlung des Credos, daß Gewalt, Repression und Terror nichts mit dem Islam zu tun hätten. Kritiker, insbesondere Betroffene mit Migrationshintergrund wie Necla Kelek, gerieten von zwei Seiten unter Druck: sowohl durch die Drohgebärden islamischer Fundamentalisten als auch durch die Verunglimpfungen einer personell wachsenden islamophoben Intelligenzija.
Vor diesem Hintergrund erschien 2011 aus einer unerwarteten Richtung, der immer noch als konservativ wahrgenommenen FAZ und ihrem Feuilletonchef, eine 300 Seiten starke „Streitschrift“ (Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam), die die „sogenannte“ Islamkritik in Bausch und Bogen verurteilte. Die vielfach mit Applaus aufgenommene Polemik eines „publizistischen Schwergewichts“ (Deutschlandfunk) unterstellte den Protagonisten, Gewalt zu säen. Als sich kaum ein Jahr später eine zweite Auflage des Bestsellers anbot, ergänzte der Autor in einem Nachwort seine Kritik mit dem Hammer: Seit dem 22. Juli 2011, dem Tag als Anders Behring Breivik in Norwegen ein Massaker anrichtete, „kennt die Menschheit den islamkritischen Terrorismus“. Wer es nach der Erstauflage noch nicht begriffen hat, dem soll nun klargeworden sein: „Die Islamkritik ist wie der militante Islamismus eine transnationale apokalyptische Bewegung.“
Thilo Sarrazin ist der Anti-Bahners
Schon einige Jahre vor den „Panikmachern“, zu Beginn der Deutschen Islamkonferenz, hatten 60 Migrationsforscher und linke Intellektuelle in einer Art Manifest (veröffentlicht in der Zeit 2006) die erfahrungsbezogene Islamkritik von Necla Kelek und anderen diffamiert. Die Resonanz in den Medien war jedoch eher negativ. Ganz anders nach den Hammerschlägen durch Bahners: „Ein Buch zur rechten Zeit“, hieß es in einigen Rezensionen auch aus der linken Geisteswelt.
Thilo Sarrazin, der mit Necla Kelek, Seyran Ateş, Hamed Abdel-Samad, Alice Schwarzer, Ralph Giordano und dem hessischen CDU-Politiker Hans-Jürgen Irmer dieser sogenannten apokalyptischen Bewegung zugeordnet wurde, zeigte sich erstaunt, durch Bahners in die erste Reihe katapultiert zu werden. Erst 2019 legte er dann mit „Feindliche Übernahme“ themengerecht nach.
Religionskritik a la Feuerbach und Marx? Igittigitt!
In der öffentlichen Debatte firmierte diese neue Publikation des früheren Bundesbankers und Erfolgsautors dann allerdings längst nicht mehr nur als Islamkritik. Man versah sie mit anderen Etiketten aus dem Begriffsfeld der Feindschaft (Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, Feindbild Islam, Islamophobie, antimuslimischer Rassismus). Denn die Zeiten hatten sich geändert. Die Islamkritik war in Verruf geraten. Eine wachsende Zahl von Experten und Studierten, die sich die Analyse und Bekämpfung der vermeintlichen Islamfeindlichkeit in allen ihren Modifikationen auf das Panier schrieben, flutete im Aufwind der „Panikmacher“ den wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt mit Beiträgen.
Iman Attia, seit 2009 Professorin für Diversity Studies, Rassismus und Migration, verortete, wegweisend und diffus zugleich, „Islamkritik zwischen Orientalismus, Postkolonialismus und Postnationalsozialismus“ (Titel eines Aufsatzes von 2010, Dissertation 2008; von der Promotion zur Professur war nur ein kleiner Schritt); aber nicht als Religionskritik, die man versuchsweise neben Werke von Ludwig Feuerbach oder Karl Marx stellen könnte.
„Jede Kritik an Muslimen kann nunmehr mit dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus rechnen.“
Da Islamfeindlichkeit seit 2019 bei einigen VS-Ämtern als Beobachtungsobjekt gilt, wurde aus diesem Umfeld durch Armin Pfahl-Traughber und für ein breites Publikum über die Bundeszentrale für politische Bildung klargestellt, daß Islamkritik – „unter gewissen Bedingungen“ – legitim bleiben müsse. Kritik soll legitim bleiben, eine eigentümlich berührende Versicherung! Nicht selten traf Islamvertreter und -experten durch mißtrauische Zeit-genossen sowie die angegriffenen Islamkritiker der Vorwurf, Kritik als bloßes Ressentiment zu denunzieren und dadurch zu verhindern.
Natürlich wolle man echte Kritik nicht verhindern, Gott bewahre! Ein eigenständiges, frei verfügbares Thema ist sie aber auch dank der Flurbereinigung durch Bahners, der wuchtigen Gleichsetzung von Ressentiment und Kritik, nicht mehr. „Jede Islamkritik oder Kritik an Muslimen“, so Levent Tezkan, seit 2019 Professor für die sozialwissenschaftliche Erforschung des Islam an der Universität Münster, „kann nunmehr potentiell mit dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus rechnen.“ (Die Subjekte der Islampolitik, Wiesbaden 2021, S. 8)
Der „Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ Seehofers
Beispielhaft sichtbar wird diese Verschiebung an den Ergebnissen des „Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit“ (Eigenschreibweise: „Expert*innenkreis“), den Innenminister Horst Seehofer (CSU) 2020 als Beratungsgremium berief. Der Abschlußbericht (Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz, 2023)präsentiert unter anderem den Publizisten Henryk M. Broder als Exponenten eines salonfähig gewordenen und weit verbreiteten anti-muslimischen Rassismus. In einem Spiegel-Artikel vom 2. Januar 2010 („Im Mauseloch der Angst“) hatte er geschrieben, daß durch den islamistischen Terrorismus eine Drohkulisse aufgebaut worden sei, die ihre Wirkung auf die Meinungsfreiheit nicht verfehlt habe. Broder wehrte sich juristisch gegen die Invektive des UEM, und das Innenministerium ließ den vom CDU-Bundestagsabgeordneten Christoph de Vries als „toxisch“ bezeichneten Bericht kurzerhand einstampfen.
Als wichtige Ergänzung zur Bestandsaufnahme der allgemeinen Muslimfeindlichkeit beauftragte der UEM zuletzt den Islamsoziologen Imad Mustafa mit einer besonders heiklen Dokumentenanalyse. Mit den Deutschen war ja ersichtlich kein Staat zu machen, aber wie stand es aktuell um jene, die die Verstockten in den Bundestag wählten, also mit den politischen Akteuren, aus deren Mündern in verschiedenen Tonarten die zu Bahners’ Zeiten noch irgendwie provozierende Äußerung erklang, daß der Islam zu Deutschland gehöre?
Eine solche Dokumentation war zwar nicht mehr ganz im Sinne des Auftraggebers, aber auch nicht ganz daneben, eigentlich sogar folgerichtig, zumal mittlerweile Nancy Faeser (SPD) das Parkett des BMI betreten hatte. Die Studie sollte im Sinne des Expertenkreises aufzeigen, wie tief die im Bundestag vertretenen Parteien (noch) im Sumpf des antimuslimischen Rassismus steckten und wo sie mithin in Fragen des Islam an sich zu arbeiten hätten.
„Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland.“
In einer Fußnote deutet der Autor an, daß auch der Begriff Islamkritik, zumindest im niederen öffentlichen Diskurs, nicht gänzlich obsolet geworden sei. Im Rahmen seiner Untersuchung, die analytische Tiefe beanspruche, spiele er aber keine Rolle. Uninteressant sind also in den Parteiprogrammen und Bundestagsdebatten möglicherweise zum Ausdruck kommende islamkritische Aussagen, sofern es solche überhaupt geben kann.
Der Leser der als PDF weiterhin kostenfrei zugänglichen UEM-Zuarbeit („Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland.“ Islam und antimuslimischer Rassismus in Parteiensystem und Bundestag, Bielefeld 2023) muß sich bei der Lektüre mit einigen Begriffen vertraut machen, die heute ganz selbstverständlich die sozialwissenschaftliche Debatte an den Universitäten prägen. Dazu gehört das Wort „Narrativ“, das man mit ideologisch gefärbte Erzählung oder (verfehlte) fixe Idee übersetzen könnte. Die Art der Einfärbung wird durch das Adjektiv bestimmt.
Die AfD – der schlimmste Schlimmfinger
Der schlimmste Schlimmfinger ist natürlich die AfD: „Antimuslimische Narrative ziehen sich wie ein roter Faden durch die Programme der AfD“, grollt der Soziologe. Daher sei es nur zu verständlich, wenn dem Verfassungsschutz diese permanente „islamfeindliche Hetze“ als „zentraler Argumentationsanker bei der Einordnung […] als Beobachtungsfall“ diene. Aber auch die FDP hantiere mit einem „islamfeindlichen Narrativ, wonach sich der Islam reformieren müsse, um mit den europäischen Rechtsordnungen kompatibel zu werden.“
Man bemerkt spätestens bei solchen Erläuterungen, daß Narrative nicht nur falsche Elemente einer Debatte sind, sondern mit Argumenten überhaupt inkongruent. Zugespitzt wird dies bei der Analyse der CDU, die sich (wie die AfD und ganz nah bei ihr) eines „Bedrohungsnarrativs“ bediene. Sie „unterwirft die Muslime einem verandernden Blick“. Das muß folglich ein sehr aggressiver „böser Blick“ sein, der eine solche Unterwerfung bewerkstelligt. Jedenfalls sind die anderen (die Muslime) nach Imad Mustafa keineswegs die anderen, sondern sie werden, eben durch ein Bedrohungsnarrativ, „verandert“; wir hoffen einmal für die Betroffenen: nicht auch durch den bösen Blick verändert.
Selbst die Grünen werden islamfeindlicher Anwandlungen bezichtigt
Die SPD verzichte zwar weitgehend auf Bedrohungsszenarien und diskursive Ausgrenzungen, sei aber „nicht frei von antimuslimischen Rassismen oder auch wertegeleiteten Vorstellungen von Integration (Hervorhebung W.S.). Integration soll also (besser) nicht wertegeleitet sein? So ist es. Das meint er. Einen weiteren Begriff muß der Leser, der vielleicht noch altbackenen Ideen von Integration anhängt, erlernen. Diese sind nämlich Ausdruck „hegemonialer Entwürfe“. Ein Beispiel bietet wiederum die SPD, wenn sie unterstellt, daß durch Prävention einer möglichen Radikalisierung entgegengetreten werden müsse.
Wider Erwarten werden auch die Grünen gerügt. Wider Erwarten, denn nach der sozialwissenschaftlichen Demoskopie haben sie immerhin den größten Anteil an islamfreundlichen Wählern. Wie die meisten SPD-Strategen bleiben ihre Programmatiker ebenfalls „in den Grenzen des hegemonialen Diskurses“. Doch die Grünen bestätigen allemal ihre Diversität. So verdient sich der Berliner Landesverband durch seinen „postkolonialen Ansatz“ ein besonderes Lob.
Einziger „Lichtblick“ – die Linkspartei
Zugleich stößt Mustafa aber in dieser Partei bei näherer Inspektion üblicherweise verdächtiger Winkel auf zutiefst rassistisches Gedankengut. Im Programm der Bayern-Grünen entdeckt er einen „islamfeindlichen Ausfall“, da unterstellt werde, daß Muslime Integrationskurse zur Aufklärung über Antisemitismus und Sexismus benötigten. Und „muslimisch markierte Frauen pauschal häufiger als Opfer von Gewalt in der Partnerschaft“ gleichsam zu viktimisieren, das sei einfach eine „antimuslimische Entgleisung“.
Gibt es denn nichts, so fragt man sich bedrückt, was den kritischen Islamsoziologen angesichts der Programme und Debattenbeiträge der Bundestagsparteien zufriedenstellen könnte? Doch! Es ist Die Linke. Sie stelle sich überall schützend vor den Islam, thematisiere und verurteile kompromißlos den antimuslimischen Rassismus in jedweder Form. Die Linke komme „praktisch ohne islamfeindliche Narrative“ aus und sei „praktisch frei von islamfeindlichen Stereotypen“, lobt Mustafa.
Das Kuckucksei im ministerialen Nest
Zweimal praktisch. Aber daher wohl nicht theoretisch? So erhält auch diese islamfreundliche Partei noch eine kleine Ermahnung mit auf den Weg: „Ihre Positionen sind durchgehend konsistent und stehen denjenigen der AfD diametral gegenüber. Kulturalistische Argumentationen sind der Partei ebenso fremd wie Zugehörigkeitserklärungen“, denn solche Deklarationen wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ sind für Imad Mustafa und Kollegen nur leeres Geschwätz. Die Linke beharre stattdessen auf ihren traditionellen Grundsätzen der Solidarität und sozialen Teilhabe für alle Menschen.
Hier sei allerdings die Frage an die Partei zu richten, so der Soziologe mit erhobenem Zeigefinger, „ob eine Positionierung im Zugehörigkeitsdiskurs abseits ihrer ideologischen Haltung im Sinne des Konzepts der Allyship politisch nicht zielführender für Muslim*innen in Deutschland ist.“ Damit wird, beinahe mit der allerletzten Zeile, ein neuer Begriff des aktuellen queerdeutschen Soziologenjargons aus dem Hut gezogen. Seit 2022 ist „allyship“ im Oxford Dictionary nachgewiesen, überdies von einer Jury zum globalen „Word of the Year“ erhoben. Zyniker dürfen ihn (nicht) mit Komplizenschaft übersetzen.
Das vorerst gescheiterte Bemühen des Abgeordneten de Vries und der CDU, die „toxischen“ Ausarbeitungen des „Unabhängigen Expert*innenkreises Muslimfeindlichkeit“ gänzlich aus der Welt zu schaffen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn der frühere CSU-Chef Seehofer (O-Ton: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“) hat ihnen das Kuckucksei ins ministeriale Nest gelegt.
——————————————
Werner Sohn, Jahrgang 1950, studierte Sozialwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Gießen. Zwischen 1986 und 2017 war er Angestellter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden und zeitweise für das Bundeskriminalamt tätig.